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Bayerisches Zahnärzteblatt

BZB, Heft 1/97, PRAXIS, S. 24-26


OBERARZT DR. J. A. OBWEGESER,

Allgemeines öffentliches Krankenhaus der Stadt Linz, Abteilung für Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie


Der interdisziplinäre Therapieansatz:

KFO–MKG-Chirurgie

Der Hauptberührungspunkt zwischen beiden Fachdisziplinen liegt in der skelettalen Problematik. Hierbei ist jedoch hervorzuheben, daß die erste Verantwortlichkeit dafür beim Kieferorthopäden liegt, da er es meistens ist, der vom Patienten als erstes aufgesucht wird. In dieser Phase hat der Kieferorthopäde zu entscheiden, ob der Fall möglicherweise in Richtung "Kombitherapie" geht oder nicht. Diese Entscheidung ist allerdings oft schwer zu treffen, da sie von vielen Variablen mitbestimmt wird.

Primäres Ziel: eine funktionelle Okklusion

Das Ziel der kieferorthopädischen Behandlung ist nicht primär die Veränderung der Gesichtsmorphologie, sondern eine funktionelle Okklusion innerhalb der Grenzen, die durch den Gesichtstyp vorgegeben sind. Erst wenn die funktionelle Okklusion innerhalb der Grenzen des gegebenen Gesichtstyps nicht möglich ist, ist die Indikation zur chirurgischen Korrektur der Kieferbasen indiziert. Neben dieser klassischen Indikation für einen chirurgischen Eingriff gibt es freilich eine mehr oder weniger breite Grauzone. Diese ist dann gegeben, wenn die kieferorthopädische Monotherapie einen Kompromiß seitens der Okklusion oder Ästhetik darstellt. Hierbei müssen die individuellen Bedürfnisse des Patienten hinsichtlich eines perfekten kosmetischen Resultates, Kooperation und Behandlungsdauer ins Kalkül gezogen werden.

Der Kombifall

Die interdisziplinäre Planung sollte prinzipiell vor jeglichem Behandlungsbeginn erfolgen: Einerseits erfordert die Gesamtplanung beim kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Vorgehen als ersten Schritt die Festlegung von Ausmaß und Richtung der Verlagerung der skelettalen Anteile. Wie der Architekt vor dem Bau das Haus plant, muß auch hier eine Prädiktionsplanung erfolgen (Abbildung 1). Sie ist das Kernstück der Behandlung und darf nicht durch ein limitiertes operatives Spektrum oder Unerfahrenheit des Kieferorthopäden begrenzt sein.

Andererseits zwingt die rechtliche Situation dazu, daß der Patient vor Beginn der Gesamtbehandlung über die Risiken und Behandlungsalternativen aufgeklärt wird. Das bedeutet beim Kombifall, daß eine erste chirurgische Aufklärung bereits vor dem Beginn der prächirurgischen Kieferorthopädie zu erfolgen hat. Diese aber kann freilich erst nach Erstellung eines interdisziplinären Behandlungsplanes durchgeführt werden. Dieser rechtliche Aspekt hat in letzter Zeit bereits deutlich an Aktualität gewonnen.

Die eigentliche interdisziplinäre Planung

Ziel der interdisziplinären Planung ist es, eine harmonische Relation der Kieferbasen und eine optimale Koordination der Zahnbögen bei ausreichender Knochendeckung aller Zähne zu erzielen. Der entworfene und an Unterlagen simulierte skelettale Grundriß stellt die Basis für den kieferorthopädischen Planungsteil dar. Die prächirurgische Kieferorthopädie hat als Minimallösung den chirurgisch geforderten Bewegungsspielraum sicherzustellen (dentale Dekompensation einer skelettalen Anomalie). Wünschenswert ist jedoch eine präoperative Vorbereitung, die nach der geplanten skelettalen Verschiebung zu einer vollkoordinierten okklusalen Einstellung führt. Das Ausmaß der prächirurgischen Kieferorthopädie hängt vom Einzelfall ab. Häufig können kieferorthopädische Feinbewegungen viel leichter nach der skelettalen Korrektur durchgeführt werden. Die weitverbreitete Forderung an den Kieferorthopäden: "Mache zwei Zahnbögen, die nach einer skelettalen Verschiebung perfekt zueinanderpassen" ist zwar aus chirurgischer Sicht angenehm, aber überholt. Sie bedeutet, daß der Kieferorthopäde für die dentale Dekompensation, das Management der transversalen Diskrepanzen und der Korrektur der Spee´schen Kurven allein verantwortlich ist. Im Rahmen einer modernen interdisziplinären Planung werden jedoch Faktoren wie Stabilität, technische Probleme und physiologische Aspekte wie parodontaler Nutzen oder Schaden in die Waagschale geworfen. Diese Maximalforderung an die Kieferorthopädie mag zwar in einfachen Fällen gerechtfertigt, in komplexeren Fällen jedoch sicher nicht erreichbar oder manchmal auch gar nicht wünschenswert sein, weil ihr Grenzen durch Form und Lage der Alveolarfortsätze für das Erreichen einer entsprechenden Zahnposition gesetzt sind. In diesen Fällen kann die moderne Chirurgie durch Segment-Osteotomien, die für sich allein oder in Kombination mit anderen Osteotomien des Gesichtsskelettes durchgeführt werden können, ein befriedigendes Resultat erzielen (Abb. 2, 3a, b).

Eines der Hauptziele der gemeinsamen Planung und Therapie besteht darin, die kieferorthopädischen und chirurgischen Rezidivtendenzen gegeneinanderzurichten. Grundsätzlich müssen die Kieferorthopädie und die Chirurgie in einer gemeinsamen Behandlung gegensinnig arbeiten. So sollen zum Beispiel bei einer Retromandibulie durch prächirurgische Kieferorthopädie die Klasse-II-Verzahnung verstärkt und die Molaren im Unterkiefer aufgerichtet werden. Dadurch werden die sagittalen Rezidivtendenzen gegeneinander gerichtet. Sinkt nun der Unterkiefer postoperativ etwas zurück, wird diese skelettale Bewegung durch das eintretende kieferorthopädische Rezidiv okklusal abgefangen. Diese Behandlungsreserve muß in allen Dimensionen des Raumes aufgebaut werden. So führt ein transversales Rezidiv postoperativ häufig zum offenen Biß.

In besonderem Maße sollte der vertikalen Behandlungsreserve beim offenen Biß Aufmerksamkeit geschenkt werden. Für die Kieferorthopädie bedeutet dies, daß eine prächirurgische Nivellierung der beiden Zahnbögen zu unterlassen ist. Vielmehr ist eine Nivellierung innerhalb von Segmenten zu empfehlen, wobei die Zähne innerhalb der Seitenzahnsegmente und des Frontsegmentes ihre eigene vertikale Position einnehmen. Eine Intrusion wäre wünschenswert. Diese prächirurgische Vorgehensweise impliziert ein segmentalchirurgisches Procedere (Abbildung 4a und b). Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, daß der offene Biß auch lediglich ein Symptom einer dentofazialen Anomalie darstellt. Auch die chirurgische dentoalveoläre Kompensation eines Überbisses muß nicht immer ein stabiles Ergebnis darstellen, da die Tendenz des Überbisses der Frontzähne, in ihre ursprüngliche Position zurückzukehren, vom Typ des Gesichtsschädels abhängt. Bei einem Gesichtsschädel mit vertikalem Wachstumsmuster wird es daher erforderlich sein, neben Segment-Osteotomien zusätzlich andere chirurgische Maßnahmen zu ergreifen, um die Gesichtsmorphologie einerseits aus Stabilitätsgründen, andererseits aus ästhetischen Gründen zu verändern.

Frühzeitig und intensiv kooperieren bringt optimalen Nutzen

Die letzten Jahre auf dem Gebiet der interdisziplinären kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Zusammenarbeit sind durch intensive Analysen der Ergebnisse und dem Versuch, nachteilige Auswirkungen zu eliminieren, gekennzeichnet. Durch intensivere Planung, durch exaktere Indikationsstellungen und durch frühzeitige systematische Einbeziehung des chirurgischen Behandlungspartners ergibt sich für den Kieferorthopäden häufig der Vorteil, daß er in der postchirurgischen Phase nicht "den Berg hinauf", sondern "den Berg hinunter" behandeln kann.


Abbildung 1. Retromandibulie, skelettale Prädiktionsplanung: Sagittale Spaltung der aufsteigenden Unterkieferäste plus Segment-Osteotomie am Unterkiefer-Alveolarfortsatz plus Kinn-Augmentation. Segment-Osteotomien können die prächirurgische Kieferorthopädie erleichtern.

 

Abbildung 2. Operationssitus: Segment-Osteotomie distal der lateralen Schneidezähne zur Korrektur der Spee´schen Kurve und achsengerechten Einstellung des dentoalveolären Frontsegmentes. Zusätzlich sagittale Spaltung und Kinn-Augmentation.

 


Abbildung 3a. Patientin präoperativ

Abbildung 3b. Patientin postoperativ

 

Abbildung 4a. Präoperative Situation im Bereich der interdentalen Segment-Osteotomie

 

Abbildung 4b. Postoperativ keine ungewünschten Nebeneffekte durch die Interdental-Osteotomie


Fotos: Obwegeser

Literatur beim Verfasser

 
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