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Bayerisches Zahnärzteblatt

BZB, Heft 1/97, PRAXIS, S. 29-30


DR. KLAUS GERKHARDT, Worms


Die Lingualtechnik

Möglichkeiten und Grenzen heute

Immer mehr erwachsene Patienten unterziehen sich einer kieferorthopädischen Behandlung. Gerade bei dieser Patientengruppe sind die Anforderungen im ästhetischen Bereich sehr hoch. Die Lingualtechnik erfüllt gegenüber der konventionell labialen Technik diese ästhetischen Ansprüche, sie hat jedoch andererseits nicht zu verhehlende Nachteile. Der Autor dieses Beitrags verfügt über 15 Jahre klinische Erfahrung mit der Lingualtechnik. Er stellt die wesentlichen Vor- und Nachteile sowie Möglichkeiten und Grenzen der lingualen Behandlungstechnik auf. Seine Forderung: "Den Patienten ehrlich über Pro und Contra aufklären."

Dadurch, daß immer mehr erwachsene Patienten kieferorthopädisch behandelt werden, prägen verstärkt ästhetische Wünsche beziehungsweise Ansprüche die kieferorthopädische Therapie. Anfang der 70er Jahre führte Dr. Craven Kurz erste Versuche mit lingual geklebten Brackets durch. 1978 formierte sich eine Gruppe von sieben Kieferorthopäden, die ihre klinischen Erfahrungen mit der Lingualtechnik austauschten und an ihrer Weiterentwicklung arbeiteten. Unabhängig hiervon entwickelten etwa zur selben Zeit Fujita und Kelly eine eigene Edgewise-Lingualtechnik, während Paige die Entwicklung der lingualen Begg-Technik vorantrieb.

Ständige Weiterentwicklung der Bracket-Systeme

Die ersten klinischen Erfahrungen machten sehr bald deutlich, daß verschiedene Problemstellungen mit dem bis dahin entwickelten Bracket-System nicht zu lösen waren. Bei allen Bracket-Herstellern wurde mehrmals eine Korrektur der Bracket-Gestaltung notwendig. Mancher praktizierende Kieferorthopäde mußte sehr bald den tatsächlichen Stand der Technik erkennen. Die Entwicklung des Keramik-Brackets ließ viele wieder zur konventionellen labialen Behandlungsweise zurückkehren; obwohl bei sachgemäßer Anwendung der Lingualapparatur viele Zahnstellungs-anomalien zu behandeln sind. Die heute angebotenen Brackets lassen sich nach der Ausrichtung des Bracket-Slots einteilen – ein nach okklusal geöffneter Slot, der mit den Autoren Creekmore, Fujita und Paige in Verbindung steht, und der horizontale geöffnete Slot, der mit dem Kieferorthopäden Dr. Craven Kurz verbunden ist.

Patienten ehrlich aufklären

Nach 15 Jahren Erfahrung mit der Lingualtechnik lassen sich zwei Feststellungen treffen:

1. Einem Zahn ist es offensichtlich gleichgültig, von welcher Seite die Behandlung erfolgt.

2. Jeder ästhetische Vorteil wird mit Nachteilen sowohl für den Patienten, als auch für den Behandler "erkauft".

Der Aufklärung des Patienten sollte wie bei jeder anderen Behandlung hohen Stellenwert zu kommen. Mangelnde Mitarbeit bei der Zahnpflege würden durch die kritischen Abstände zur Gingiva unweigerlich zu massiven Gingivitiden führen, die eine Weiterbehandlung unmöglich machen – der Entfernung überschüssiger Klebstoffreste kommt unter diesem Aspekt äußerste Sorgfalt zu.

Phonetische Beeinträchtigung möglich

Die Tatsache, daß nach Einsetzen der Apparatur die Phonetik beeinträchtigt ist, muß mit allen Patienten offen angesprochen werden. Die Gewöhnungsphase ist nicht einheitlich – bei einigen Patienten konnten während der gesamten Behandlungszeit die Veränderungen der Sprache wahrgenommen werden. Die meisten Patienten konnten jedoch nach einer Woche bis einem Monat wieder alle Laute artikulieren. Die Erfahrungen decken sich mit den Untersuchungen des Eastman Dental Centers.

Die oftmals als Nachteil ins Feld geführte Irritation der Zunge konnte im Laufe der Jahre durch Veränderungen der Bracket-Form deutlich reduziert werden. Aus gleichen Gründen müssen bei jedem Bogenwechsel überstehende Bogenenden oder auch Ligaturen sorgfältigst umgebogen werden.

Individuellen Bracket-Satz anfertigen

Die unterschiedliche Anatomie der Lingual-Flächen sowie der kürzere und engere Bogenradius waren wichtige Faktoren bei der Bracket-Entwicklung. Ebenso wurde sehr bald klar, daß ein direktes Setzen von Brackets lingual nicht mit der nötigen Genauigkeit durchgeführt werden konnte. Erst die Einführung der TARG – Torque and Angulation Reference Gauge – oder der Slotmachine von Creekmore brachte entscheidende Fortschritte. Mit der Einführung des C.L.A.S.S.-Systems ist es nun seit sieben Jahren möglich, einen auf den Patienten und dessen Anomalie bezogenen individuellen Bracket-Satz herzustellen. Hierbei wird von den Anfangsmodellen nach gelenkbezüglicher Montage ein Set-up des angestrebten Behandlungsergebnisses erarbeitet. Durch Aufbau der Netzbasis mit Adhäsiv lassen sich In und Outs, Torque- und Angulationswerte anhand der Ergebnisse auf die Anfangsmodelle transferieren.

Unverzichtbare Prinzipien für den Behandlungserfolg

Verschiedene Prinzipien der lingualen Behandlungstechnik sind für den Behandlungserfolg unverzichtbar. Vor Korrektur der Rotation steht das Öffnen des Zahnbogens. Bei Nicht-Extraktionsfällen entweder mit Druckfedern, approximalem Beschleifen oder durch Öffnungsloops mesial der ersten Molaren. Bei Extraktionsfällen (Abbildung 1a, b) werden die Eckzähne nur so weit distalisiert, wie es zum Ausrotieren der Frontzähne nötig ist. Danach erfolgt die Retraktion des gesamten Frontsegmentes von 3 + 3 unter Beachtung der Verankerungssituation mit intra- beziehungsweise eventuell intermaxillären Gummizügen. Die Off-set-Biegungen distal der Eckzähne werden bereits im Initialbogen eingefügt und tragen der bukko-lingualen Differenz der Zähne Rechnung. Der Kontrolle der Zahnbogenform ist in jeder Behandlungsphase größte Aufmerksamkeit zu widmen.

Möglichkeiten und Grenzen

Meine Erfahrungen heute lassen sich wie folgt zusammenfassen: Geringfügige Stellungsanomalien, zum Beispiel Rotationen, Intrusionen, Extrusionen und Lückenbildungen, sind bei neutraler Verzahnung und ausreichendem vertikalen Überbiß ohne große Probleme zu behandeln (Abb. 2a,b). Distalbißfälle mit tiefem Überbiß lassen sich auch bei Extraktion im Oberkiefer noch gut behandeln. Eine notwendige Extraktion im Unterkiefer läßt diese Fälle aber um ein Vielfaches schwieriger werden. Die Behandlung von Patienten mit einem knappen frontalen Überbiß erfordert eine große Erfahrung – Überkorrekturen vertikal sind durch die lingualen Brackets nicht möglich.

Letztendlich läßt sich jeder Zahn heute von lingual bewegen – die Belastungen für den Patienten sowie der Aufwand für den Behandler sind aber nicht mit der labialen Multibandtechnik vergleichbar. Die linguale Behandlungstechnik trägt somit ausschließlich den ästhetischen Wünschen der Patienten Rechnung und kann nicht Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung sein – noch werden.



Abbildung 1a

Abbildung 1b
Abbildung 1a und 1b. Ober- und Unterkiefer zu Beginn der Behandlung. Die ersten Prämolaren sind nicht mit Brackets versehen. Sie werden erst nach der Bebänderung zur Extraktion angewiesen.

 


Abbildung 2a

Abbildung 2b
Abbildung 2a und 2b. Ober- und Unterkiefer am Ende der Behandlung. Die Behandlung mit der lingualen Apparatur dauerte zwei Jahre, 14 Tage.


Fotos: Gerkhardt

Literatur beim Verfasser

 
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